Anatol Herzfeld Kunst ist Arbeit - Arbeit ist Kunst. Aus dieser
Gleichsetzung von Kunst und Arbeit hat Anatol Herzfeld die für seinen
Schaffensprozess wichtige ,,Arbeitszeit“ entwickelt. Er
verlässt die Abgeschlossenheit seines Ateliers und bezieht die Öffentlichkeit
bei der Entstehung seiner Werke ein. ,,Wenn ein Mensch arbeitet und ein
anderer Mensch schaut ihm bei der Arbeit zu, dann hat er die Möglichkeit,
Mitarbeiter zu werden“, hat Anatol in diesem Zusammenhang geäußert. 1969
begründet Anatol in Mönchengladbach die Kunstform Arbeitszeit mit der
Aktion ,,Königsstuhl eine Tonne Stahl“ und ,,Hausbau“. Auf der
documenta 5 (1972), 6 (1977) und 7 (1982) in Kassel sowie bei der
Europalia in Brüssel, der Biennale in Antwerpen und während der
Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (1989) ,,200 Jahre
Französische Revolution in Deutschland“ verfolgt er diesen für sein
Werk und für sein Kunstverständnis grundlegenden Schaffensprozess
weiter. In einer zehn Tage währenden Arbeitszeit gestaltet Anatol in Nürnberg
auf dem großen Platz vor dem Eingang des Museums im ständigen Dialog mit
Passanten und kunstinteressierten Besuchern seine Plastik ,,Die Französische
Revolution“. Auf einer dreiteiligen runden Stahlplatte mit einem
Durchmesser von 3,80 m liegen drei wuchtige Gletscherfindlinge aus Granit.
Diese Steine - den ,,Tanz der Freiheit“‘ den ,,Stein der Gleichheit“
und den ,,Stein der Brüderlichkeit“ - bearbeitet er vor Ort mit
Ritzzeichen. Freiheit - Gleichheit -Brüderlichkeit sind auch das
Fundament, auf dem Anatols Kunst und sein Leben, die eine Einheit bilden,
ruhen. Seit
1982 arbeitet Anatol auf der Museumsinsel Hombroich an dem Gesamtkunstwerk
,,Mensch und Plastik“. Die ,,Kirche“, das ,,Parlament“, ein Kreis
aus zwölf Eisenstühlen, und die ,,Schule“ sind Beispiele seiner Arbeit
an diesem Gesamtkunstwerk. Die Arbeitszeit wird nach seiner eigenen
Bekundung erst beendet sein, wenn er ,,den Meißel endgültig aus der Hand
legt“. Doch
soweit ist es noch lange nicht. Umgeben von den von ihm geschaffenen
Skulpturen - der mit Blei ummantelten Mooreiche, der Sonnenkanone, den
Eisenkaufleuten und den Wächtern aus Stahl, dem Bleihaus und den
Findlingen, mit Ritzzeichnungen versehen oder als Köpfe gestaltet -
arbeitet Anatol Tag für Tag auf der Insel Hombroich. In
seiner Kunst sucht Anatol eine Antwort zu geben auf die Fragen nach dem
Werden und Vergehen aller Kreaturen, auf die Fragen nach dem Wert und dem
Sinn des Lebens. Seine Kunst ist immer auf den Inhalt gerichtet. Er
versucht, Probleme zu erkennen und in seinem künstlerischen Schaffen dazu
Stellung zu nehmen. Nicht abstrakt und aus der Distanz setzt er sich mit
den aktuellen Fragen der Gegenwart auseinander, sondern als ein
Betroffener, dem das Schicksal seiner Mitmenschen und das Wohl seines
Landes am Herzen liegen. Es
ist eine in schwerer handwerklicher Arbeit geschaffene Kunst. Da kommt der
junge kraftvolle Schmied hervor, der sein Handwerk von der Pike auf
gelernt hat. Eisen,
Stein und Holz, auch solche Holzteile, die scheinbar ausgedient haben -
alte Scheunentore und verwitterte Fensterläden - sind seine bevorzugten
Materialien, mit deren Hilfe er seinen Wahrnehmungen und Empfindungen
Gestalt verleiht. Manfred
Boetzkes hat Anatols Umgang mit den verschiedenen Materialien besonders
anschaulich geschildert: ,,Gerade angesichts der Bedrohung ist der Mensch
in seiner ganzen Kreatürlichkeit und Kreativität gefordert, und nicht
die Paradiesvögel sind seine Weggenossen, sondern die Spatzen, die im
Dunstkreis der Hochöfen, der Kühltürme, der Atomkraftwerke und der
biologisch toten Flüsse zu leben und zu überleben vermögen. Wie sie
macht der Künstler Zivilisationsschrott gleichsam fruchtbar, beseelt das
Tote, das Geschichte hat, zu neuem Leben, das Geschichte erzählt.
Ausrangiertes und Ausgedientes, das Strandgut unserer Wegwerf- und
Betonierungsideologie, Holzbohlen, Fensterläden und Türen aus Abrisshäusern,
Metallschrott, Ziegelsteine, gebrauchte Säcke und Kartons sind sein
Material. Zum Überleben in dieser Welt reichen ,Parolen‘ nicht aus: Es
bedarf der Arbeitszeit“. (,,Von der Einheit von Kunst und Arbeit“ in
Ausstellungskatalog Anatol, Bilder 1979 - 1984, Römer- und
Pelizaeus-Museum, Hildesheim 1984.) Anatols
Werke legen Zeugnis ab von seinen Reflexionen über Geburt, Leben und Tod
und über die Kraft der Natur, der Mutter alles Lebendigen, die neues
Leben hervorbringt, aber auch Leben bedrohen und vernichten kann. Dabei
bedient sich Anatol archaischer Zeichen und Symbole, die seine Werke zu
Zeugnissen von zeitloser Gültigkeit werden lassen. Für
die weite Spanne seiner Gedanken, die Ausdruck in seinem Werk finden,
steht die Kreuzblume als Symbol für die Kraft des Lebens. Dieses Symbol
geht zurück auf das Gleichnis vom Senfkorn, das dem Himmelreich gleich
zwar das kleinste von allen Samenkörnern ist „Wenn es aber ausgewachsen
ist, ist es größer als die Gartengewächse und wird zu einem Baum, so
dass die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen wohnen“ (Matthäus
13/31,32). Die Kreuzblume schlägt zugleich eine Brücke zu seiner eigenen
Vergangenheit. Ihre gelbe Farbe erinnert an die blühenden Rapsfelder in
Ostpreußen, wo Anatol seine Kindheit verlebte. Ein
weiteres Symbol, das in Anatols Werk häufig wiederkehrt, ist der Fisch,
Sinnbild des auferstandenen Christus. In der Gestalt eines Delfins zum
Beispiel dient er dem Fährmann als Nachen, der ihn sicher über das
Wasser geleitet. Als streng stilisiertes, auf das Wesentliche reduziertes
Lebewesen steht der Fisch auf vielen Kreuzen als Sinnbild für den
gekreuzigten und wieder auferstandenen Christus. Als
drittes wichtiges Symbol findet sich der Schmetterling in Anatols Werk in
seiner Ursprungsform als Raupe oder Puppe und in der Endstufe der
Metamorphose als bunter Schmetterling. Mit dem ,,Schmetterlingskönig“
(1992), einer zwei Meter hohen Eisenskulptur, legt Anatol Zeugnis ab von
der geistigen Durchdringung des Umwandlungsprozesses, dessen Stationen
Werden und Vergehen, Geburt und Tod sind. Anatol
ist ein gläubiger Mensch. Sein wichtigstes Buch ist die Bibel, die immer
griffbereit auf dem groben Holztisch in seiner Hütte liegt. Aus ihr schöpft
er Hoffnung und Glauben, findet Antworten auf seine Fragen und
Inspirationen für seine Arbeit. Die ,,Kirche“ auf der Insel Hombroich
bezeugt die enge Verbindung zwischen Gott und den Menschen. Im
August 1989 weiht Pastor Wiese mit einer Messe, an der fünfzig
Jugendliche teilnehmen, die Kirche ein. Er schreibt über diesen nicht
alltäglichen Gottesdienst, der unter dem Thema steht ,,Ich bin der
Stein“: ,,Jeder suchte sich im Steinrund einen Stein, der ihn/sie
ansprach und hockte sich darauf. Wir verschmolzen mit den Steinen, wurden
selber zu einem Stein, der zum Bestandteil des Kreises gehörte. Jeder
Stein war wichtig, jeder Stein hatte seine eigene Geschichte, jeder Stein
sagte etwas aus über mich, weil ich ihn ausgesucht hatte. Aus diesen
originellen Steinen, aus uns, ist die Kirche erbaut... Die Steinkirche des
Anatol brachte uns alle in Bewegung (in Ausstellungskatalog Anatol,
Arbeiten 1983-1993, ,,Jesus Christus muss uns zu Freunden machen“,
Gerhart-Hauptmann-Haus, Deutsch-Ost-europäisches-Forum, Düsseldorf). Die
Werkbank, die damals als Altar diente, steht heute bei Pastor Wiese in der
Krypta von St. Agnes in Köln, die Anatol gestaltet hat. Die
,,Kirche“ ist ein Beispiel dafür, dass Anatol durch seine Kunst etwas
in den Menschen bewirkt, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern
durch die Aussage- und Ausdruckskraft seiner Arbeiten und Aktionen. Indem
er die Menschen an dem Entstehungsprozess seiner Kunstwerke teilhaben lässt,
werden sie vom Betrachter zum Beteiligten und schließlich zum
Betroffenen. In
seinen Bildern und Skulpturen und in seinen Arbeitszeiten warnt Anatol -
oft in weiser Vorausschau - vor falschen Hoffnungen oder vor drohenden
Gefahren. Als die Mauer fällt und sich die Menschen aus Ost und West im
Freudentaumel in den Armen liegen, schafft Anatol die Plastik ,,Durch die
Pforte - 9. November 1989“. Auf
einem alten grünen Scheunentor springt ein aus Eisen geschmiedeter Mensch
mit geballter Faust und weit aufgerissenem Mund über die rote Mauer. Ist
es der sehnsuchtsvolle Schrei nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit,
der aus ihm hervorbricht? Die Antwort bleibt jedem überlassen. Was ist
jedoch übriggeblieben vom einstigen Freudentaumel? Anatol hat es schon
damals gewusst, wir wissen es heute - nicht viel. Auch während einer
Arbeitszeit in Kassel, die unter dem Motto steht ,,Wächter werden wichtig
werden“ (1992), setzt er mit einer von zwei großen Eisenskulpturen
flankierten ,,Wachstation“ ein Zeichen gegen wachsende Kriminalität und
Brutalität. Diese Mahnungen erwachsen aus der Sorge um den Menschen. Sie
sind zugleich Ausdruck der Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit, die
Anatol in vielen seiner Arbeiten im Sinnbild der Mutter, auch der großen
Mutter Natur, die ein Kind schützend umschließt, dargestellt hat. Freiheit
- Gleichheit - Brüderlichkeit - nach diesen Grundwerten lebt und arbeitet
Anatol. Seine Werke sind getragen von einer im christlichen Glauben
ruhenden positiven Lebenseinstellung, einer Lebenseinstellung, die jedem
Menschen seinen Freiraum belässt, die jeden Menschen so annimmt und
gelten lässt, wie er ist und die jedem Menschen brüderlich verbunden
ist, wenn auch manchmal auf seine etwas polternde Art.
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